
Die Kunst des Shikantaza
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Die erste Lektion von Shikantaza ist, dass nichts fehlt. Man setzt sich hin, wendet sich der Gegenwart zu und entdeckt, dass sich die Gegenwart einem zuwendet. Kein Mantra, das man wiederholen muss, kein Atemzug, den man zählen muss, kein Problem, das man lösen muss. Nur sitzen. Es klingt nach einer Kapitulation, bis man es ausprobiert. Dann erkennt man, wie viel Geschick es erfordert, nichts gut zu tun.
Auf dem Kissen wird der Körper zu einem stillen Gerüst. Die Hüften verwurzeln sich, die Wirbelsäule findet ihren natürlichen Bogen, das Kinn neigt sich kaum merklich. Die Hände ruhen locker im Schoß, ein kleines Boot in einem größeren. Der Atem ist natürlich da, aber nicht als Antreiber – eher wie Wetter, das durch ein Tal zieht, in dem man sich zufällig aufhält. Shikantaza weigert sich, die Aufmerksamkeit für ein Projekt zu rekrutieren. Es fordert die Aufmerksamkeit auf, das zu offenbaren, was sie bereits ist, wenn sie aufhört zu jagen.
Die meisten Meditationsformen sind, zumindest anfangs, zielorientiert. Wir zählen, benennen, visualisieren, regulieren. Das sind gute Werkzeuge. Sie räumen das Dickicht aus und legen Pfade an. Shikantaza beginnt dort, wo die Pfade enden. Die Anweisung ist auf das Wesentliche reduziert: Sitzen und die Erfahrung genau so sein lassen, wie sie ist, ohne Präferenz. Gedanken kommen wie Vögel und gehen wie Vögel. Empfindungen steigen und fallen. Ein Hund bellt, ein Heizkörper tickt, eine alte Erinnerung drängt sich auf. Nichts wird hinausbegleitet, nichts wird zum Bleiben eingeladen. Der Geist ist keine Bühne, die geleert werden muss, sondern ein Himmel, der nie gereinigt werden musste.
Das ist keine Passivität. Es ist eine aktive Vertrautheit mit dem, was geschieht, frei von Kommentaren. Die Haltung trägt eine stille Entschlossenheit in sich, die man in einem Baum sieht, der nicht versucht, etwas anderes zu sein. Die Aufmerksamkeit ist weit gefasst, umfassend, bereit, überrascht zu werden. Wenn das Knie schmerzt, ist der Schmerz Teil des Ganzen. Wenn Freude aufkommt, ist Freude Teil des Ganzen. Die Übung besteht nicht darin, das Ganze zu verändern, sondern es sich ohne Zensur zeigen zu lassen. Mit der Zeit beginnt sich die Gewohnheit, jeden Moment in Gefallen und Missfallen, mein und nicht-mein, einzuteilen, zu lockern. Es öffnet sich ein Raum, wo ein Urteil gewesen wäre.
Die Schwierigkeit ist ganz normal. Langeweile schleicht sich an und breitet sich im Raum aus. Unruhe legt eine Hand auf die Türklinke. Der Geist, der Aufgaben liebt, schlägt immer neue vor: Verbessere deine Haltung, atme besser, erinnere dich an eine Zeile, die du einmal über Leere gelesen hast, und wende sie hier an. In Shikantaza nimmst du diese Vorschläge wahr und lehnst sie ohne Drama ab. Zurückkehren ist die Kunst. Du kehrst zum Sitzen zurück, so wie ein Teich nach einem geworfenen Kieselstein zur Stille zurückkehrt – indem du nichts Besonderes tust.
Historisch gesehen ist Shikantaza mit der Soto-Schule des Zen und mit Dōgen verbunden, der mit einer Präzision, die Glas schneiden könnte, über „Praxis-Erleuchtung“ schrieb, die Idee, dass Praxis keine Straße ist, die woandershin führt, sondern der Ausdruck des Ziels, das bereits hier ist. Dieser Satz ergibt an einem Dienstagabend nach zwanzig Minuten auf einem Kissen mehr Sinn als auf dem Papier. In dieser Praxis sind flüchtige Momente der Stille keine Trophäen. Sie sind Erinnerungen daran, dass Bewusstsein existierte, bevor wir begannen, es zu kuratieren.
Weil Shikantaza keinen konkreten Gegenstand bietet, an dem man sich festhalten kann, wird es zu einem Training im Vertrauen. Man hört auf, dem Tag eine Geschichte aufzuzwingen, und lässt ihn seine eigene Struktur offenbaren. Muster tauchen auf. Der Zwang, jede Sekunde zu optimieren, lässt nach. Man erwischt sich selbst, bevor man Wert in die Zukunft exportiert. Man schmeckt einen Schluck Tee, als wäre er ein vollständiger Satz. Das ist nicht der Rausch spiritueller Besonderheit; es ist die Erleichterung, nicht für das eigene Leben vorsprechen zu müssen.
Irgendwann verschwimmt die Grenze zwischen dem Sitzen mit und ohne Kissen. Man stellt fest, dass „einfach nur sitzen“ auch auf das Stehen in einer Schlange, das Gehen über einen Parkplatz oder das Zuhören ohne gleichzeitiges Formulieren einer Antwort zutrifft. Der Drang, jeden Moment zu kommentieren, wird leiser. Wenn Trauer aufkommt, begegnet man ihr ohne zu zucken oder sie zu beschönigen. Wenn Freude aufkommt, lässt man sie hell sein, ohne zu versuchen, sie in ein Besitztum zu verwandeln. Die Übung löscht keine Kanten aus; sie bringt sie auf die richtige Größe. Man ist mit allem in Kontakt, von nichts befleckt.
Es gibt noch eine weitere Ehrlichkeit zu erwähnen: Manchmal fühlt sich das Ganze wie ein Reinfall an. Der Geist ist ein Markt. Der Körper wird sauer. Der Timer ist ein Tyrann. Diese Tage sind keine Misserfolge; sie sind der Lehrplan. Shikantaza verspricht keinen stetigen Aufstieg. Es schult die Treue. Man sitzt, weil man so den Tag begrüßt, ohne eine Handlung hinzuzufügen. Man sitzt, weil klares Sehen leichter ist, wenn man aufhört, auf einer bestimmten Sichtweise zu bestehen.
Letztendlich ist die Kunst des Shikantaza die Kunst, die Realität ihre eigene Erklärung sein zu lassen. Nichts Mystisches ist dahinter verborgen, und nichts fehlt ihr. Aufrecht, atmend, nehmen Sie an einer Welt teil, die Ihre ständige Verbesserung nicht braucht, um zu glänzen. Die Glocke läutet. Sie stehen. Das Leben geht genau dort weiter, wo Sie es verlassen haben, was sich als der springende Punkt herausstellt.